Der mystische Volksdichter und sein Zeitalter
Genaue Zeugnisse über das Leben von Yunus Emre liegen nicht vor. Gleichwohl gibt es eine Reihe von Veröffentlichungen mit allgemeinen Angaben über sein Leben und Wirken. Als wichtige Fundquelle für die Zeit seines Wirkens gelten seine Gedichte. Aus ihnen werden vielfach Geschehnisse seiner Zeit herausgelesen und damit zugleich fehlende Angaben über sein Leben erschlossen. Den in seinen Gedichten beschriebenen historischen Ereignissen nach zu urteilen, muss Yunus Emre in der Zeit vom Ende des 13. Jahrhunderts bis zu Beginn des 14. Jahrhunderts gelebt haben. Man kann davon ausgehen, dass es bei einem derart berühmten Dichter wie Yunus Emre nicht verwunderlich ist, dass es bezüglich seiner Lebensgeschichte mehrfache Ausschmückungen, aber auch Auslassungen gibt. Hiernach gründet das Wissen über Yunus Emre und somit auch das Porträt von ihm auf vorliegende historische Dokumente und Inhalte seiner Gedichte sowie auf legendäre Überlieferungen.
Vorliegender Literatur zufolge ist Yunus Emre einem Stamm der Turkvölker aus Horasan in Anatolien zugehörig, um 1238 in Sarıköy, einem der Kreisstadt Sivrihisar in Eskişehir angebundenem Dorf oder in einem anderen Ort, gelegen am Fluss Sakarya bei Bolu, geboren und 1321 in Eskişehir (oder an einem anderem Ort) verstorben. Dass es verschiedene, voneinander abweichende Angaben zum Geburtsort Yunus Emres und seiner Begräbnisstätte in Anatolien gibt, gilt als Zeugnis dafür, wie sehr beliebt und hochverehrt Yunus Emre unter der türkischen Bevölkerung ist. Die ihm erteilte große Ehre ist auf seine Lehre und sein Wirken zurückzuführen, insbesondere auf seinen Verdienst, die Werte, Gefühle und Gedanken seiner Mitmenschen in wundervollen Worten auszudrücken und so eine beständige Bindung zu ihnen und unter ihnen zu errichten.
Yunus Emre hat einen gewissen Zeitabschnitt seines Lebens als Derwisch („der Arme“, oft wandernder Sufi, oder allgemein Sufi) im dergah (Konvente der Derwische) seines Meisters Tapduk Emre gelebt, wo er lange Zeit seine Dienste geleistet hat. In späteren Jahren ist er zu verschiedenen Orten gewandert, um seine dort erhaltene Lehre in der Bevölkerung zu verbreiten, will heißen ihr den rechten Weg zu zeigen.
Yunus war ein Falke und saß auf Tapduks Hand –
Er kam, um zu jagen, nicht ans Nest gebannt!
Zu diesen Reisen gehörte auch ein Besuch nach Konya zu Mevlânâ (1207-1273), dem bedeutendsten türkischen Dichter und Philosoph der islamischen Mystik. Mevlânâ schätzte seinen Schüler Yunus Emre sehr. Yunus Emre war jedoch nicht die ganze Zeit seines Lebens in einem dergah. Man sagt, dass er auch im Handel oder in der Landwirtschaft tätig war. Er lebte nicht zurückgezogen, sondern stand Mitten im Leben und lebte nicht zurückgezogen, vor allem deshalb, weil er davon überzeugt war, nur auf diese Weise sein angeeignetes Wissen und seine Lebensweisheiten über den rechten Weg am besten verbreiten zu können. Yunus Emre gilt als aufmerksamer Beobachter. Er erfasste die Probleme der einzelnen Menschen und die der Gesellschaft und erteilte seine Ratschläge zu deren Bewältigung in seinen Gedichten und Aussprüchen. Betrachtet man Yunus Emres Leben insgesamt, so kommt man zu folgendem Schluss: Yunus Emre war ein mit der Bevölkerung aufs innigste verbundener Intellektueller.
Die Lebenszeit Yunus Emres ‑ Mitte des 13. Jahrhunderts bis zu Beginn des 14. Jahrhunderts ‑ fällt in einen Zeitraum, in dem in Anatolien große gesellschaftliche und politische Probleme aufkommen, der Staat der Seldschuken geschwächt ist, die Auswirkungen der Belagerung und Armut die ganze Bevölkerung hart betrifft. Yunus Emre blieb diesen historischen Begebenheiten gegenüber nicht regungslos. Ganz im Gegenteil: Er suchte gezielt nach Lösungsmöglichkeiten. In oben genannten Zeitraum, vor allem in der Zeit vom Alaeddin Keykubad I. (Herrschaft 1220-1237) erlebte Anatolien politisch, wirtschaftlich und kulturell zunächst seine Glanzperiode. Die zu Zivilisationszentren aufgestiegenen Städte Anatoliens zogen zahlreiche Wissenschaftler und Künstler an, wodurch künstlerische, wissenschaftliche und mystische Bewegungen gestärkt wurden und in der Folge davon Anatolien auflebte. Aufkommende verschiedene politische und gesellschaftliche Geschehnisse, die das Zusammengehörigkeitsgefühl der Bevölkerung in Anatolien schwächten, der Überfall der Mongolen, binnenländische Meutereien, Streitigkeiten um die Regentennachfolge, Aufruhre, Verarmung und Plünderungen deprimierten jedoch die Bevölkerung. Gerade in dieser wirtschafts‑ und gesellschaftspolitischen schweren Zeit fand Yunus Emre breites Zugehör, namentlich mit seinen Worten, in denen die verzweifelte Bevölkerung Trost fand. Yunus Emre rief zum wahren Reichtum, nämlich dem Reichtum des Herzens auf. Er lud dazu auf, dem wahren Weg zu folgen sowie den Islam und seine Bedeutung zu schätzen. Die durch den Überfall der Mongolen und den damit verbundenen Ereignissen ausgelöste depressive Stimmungslage in der Bevölkerung wurde durch die Worte Yunus Emres, Mevlânâs, Ahi Evrans und anderer schnell gebessert. Yunus Emre erinnerte immer wieder die Vergänglichkeit der Welt.
Du, der du sagst: „Die Welt ist mein“ –
Die Welt ist nicht dein – he!
Sag‘ nicht „Ist mein!“ – dann lügst du ja,
Die Welt ist nicht dein – he!“
An anderer Stelle erklärt er:
Brauchst Du ein Beispiel, blick‘ auf diese Gräber!
Bist du auch Stein, du schmilzt, wenn du sie ansiehst.
Die einst viel Geld besaßen – sieh sie jetzt an:
mit einem Hemd nur, und das ohne Kragen.
Die alles hatten, selbst ein Schloß verachtend,
in einem Haus nun, nur bedeckt von Steinen.
Süßredende und Sonnenangesicht’ge –
Wo sind sie? Ganz verschwunden, ohne Zeichen.
Die einstmals Fürsten waren, Pförtner hielten –
Komm, weißt du nun, wer Fürst ist und wer Diener?
Kein Tor zum Eintritt, Gutes nicht zu essen,
Kein Licht zu seh’n – zu Gestern ward ihr Heute!
Der Verdienst Yunus Emres liegt vor allem darin, in dieser schweren Zeit sich nicht seiner gesellschaftspolitischen Verpflichtung als Intellektueller entzogen zu haben. Er schloss sich hierbei jedoch nicht einer bestimmten Schule an, sondern blieb seinem Selbstverständnis, allein als Dichter des Islams zu wirken, treu. Ihm ging es vor allem darum, gewisse Prinzipien und Motive des Islams, an den er glaubte und ohne den er nicht leben konnte, in seine Gedichte einzubetten, um so sein Ideal, den Islam in seiner einfachsten, aber auch stärksten Art in Form von Aussprüchen in der Bevölkerung zu verbreiten, zu erreichen.